77. Protestwanderung – 10 Jahre Freie Heide

25. August 2002 in Schweinrich

 

 

Geistige Besinnung

Dr. Christiane Markert-Wizisla (Potsdam)

 

 

Vom Segen der Wanderschaft

 

Liebe Freundinnen und Freunde der Freien Heide,

am Ende seines Lebens wird der Erzvater Jakob gefragt: Wie alt bist du? Und Jakob antwortet: Die Zeit meiner Wanderschaft ist hundertunddreißig Jahre wenig ist die Zeit meines Lebens und reicht nicht heran an die Zeit meiner Väter in ihrer Wanderschaft.

 

Leben heißt für Jakob also wandern.

Wenn wir wandern, uns auf den Weg machen, dann tun wir genau das, was die Bibel sich unter Leben vorstellt. Wandern / Wandeln und Leben sind austauschbare Begriffe.

Für die Bibel ist das Wandern die angemessene Existenzweise von Menschen. Und auch von Gott wird erzählt, daß Menschen Gottes Nähe erfahren, wenn sie unterwegs sind. Gott ist einer, der mitgeht. In vielen Geschichten offenbart sich Gott und sagt: ich bin bei Dir, wohin du auch gehst, ich. wandere mit.

 

So ist es nicht vermessen, wenn wir um Gottes Segen für unsere Wanderungen bitten, wenn wir erwarten, daß Segen auf der Freien Heide ruht.

 

Die Zeit meiner Wanderschaft ist hundertunddreißig Jahre.

Die Zeit unserer Wanderschaft ist zehn Jahre; sie reicht noch nicht heran an die Wanderschaft des Erzvaters Jakob, aber sie hat ausgereicht für die Bildung einer Tradition.

 

Die Wanderungen gehören inzwischen dazu.

Der Neujahrspaziergang findet für mich seit Jahren hier statt und auch der Osterspaziergang mit der Freien Heide ist zur Tradition in meiner Familie geworden. Und so geht es vielen anderen auch, die; heute hier sind. Immer wieder treffen wir uns, wir schaffen es gar nicht, mit allen zu reden oder auch nur alle zu begrüßen, die wir kennen oder deren Gesichter wir wiedererkennen. Wir beginnen die Wanderung in den alten Dorfkirchen und ahnen, daß die Vorfahren hier bei uns sind. Sie sind bei uns mit ihren Gebeten und Liedern., mit ihrer Freude und Trauer und mit ihrer Hoffnung, die sie in die Kirchen getragen haben.

Wir gehen die alten Wege bis zur Schießplatzgrenze und wir wissen, daß die Wege dahinter weitergehen. So hat sich in den vergangenen zehn Jahren auch die Landkarte verändert. Wie es einst gewesen ist, das können sich jetzt viele wieder vorstellen, vor allem auch die Jüngeren.

 

Die Zeit meiner Wanderschaft ist hundertunddreißig Jahre.

Mit den Wanderungen auf dem Weg zu einer freien Heide sind wir in guter Gesellschaft.

Ein wandernder Aramäer war mein Vater, so beginnt eines der ältesten Bekenntnisse in der Hebräischen Bibel. Die Erväter und Mütter machen sich auf und wandern zum Land, das Gott ihnen verheißen hat. Später wandert das Volk Israel durch die Wüste - getrieben von der Sehnsucht nach dem Gelobten Land. Und viel später wandert der Rabbi aus Nazareth mit seinen Jüngerinnen und Jüngern durch die Felder von Galiläa. Indem sie wandern, verbreitet sich die Kunde vom Reich Gottes. Immer mehr Menschen schließen sich ihnen an. Sie spüren: hier geschieht etwas Wichtiges für mich. Sie erfahren, daß Blinden die Augen geöffnet werden, daß Gelähmte aufstehen und losgehen, daß Taube zu hören beginnen. Sie sind dabei, als Jesus die Friedensstifter seligpreist und den Sanftmütigen das Erdreich verheißt.

Sie ziehen durch die Felder von Galiläa und sie spüren, daß Gott bei ihnen ist. Sie teilen Brot und Wein und es reicht für alle, sie träumen vom Festmahl Gottes, das so aussehen könnte. Sie gehen mit nach Jerusalem, sie gehen vom Tod zum Leben, ihre Trauer wandelt sich in unbändige Freude.

Später werden sie sich als das wandernde Gottesvolk bezeichnen.

 

Die Zeit meiner Wanderschaft ist hundertunddreißig Jahre.

Liebe Freundinnen und Freunde, wir sind in guter Gesellschaft.

Allein durch die Wanderungen hat sich schon viel verändert. Hat sich etwas gewandelt. Die Wege, die wir gehen: Sie sind erfüllt von unserer Hoffnung, von unserem Protest, von der Heiterkeit, von den Fußspuren der vielen verschiedenen Menschen, von Kleinen und Großen, Zugereisten und Einheimischen, Politischen und Unpolitischen. Sie alle sind auf den Wegen gewandert und das wird nie mehr weggehen.

 

Die Zeit meiner Wanderschaft ist hundertunddreißig Jahre.

Vielleicht reichen 10 Jahre nicht, um zum Ziel zu gelangen: einer wirklich freien Heide.

Mit den Wanderungen haben wir diese Wirklichkeit aber schon vorweggenommen. Von Wanderung zu Wanderung tritt die freie Heide klarer hervor. Und das bleibt. Der Traum von einer freien Heide hat uns in 10 Jahren verändert. Er hat eine politische Kultur hervorgebracht, die dieser Region guttut.

 

Für mich als Christin sind die Wanderungen nicht nur am Ostersonntag ein Zeichen der Auferstehung. Auferstehung - dieser alte und fromme Begriff, bekommt einen neuen Klang. Wir stehen auf und gehen los und wissen: der Tod wird nicht das letzte Wort haben, nicht die Resignation, nicht die Niederlage bei Gericht und auch nicht das militärische Gerät oder das Geld. Das letzte Wort wird Gott haben, der bei denen ist, die wandern.

 

Die Zeit meiner Wanderschaft ist hundertunddreißig Jahre.

Unsere Wanderschaft währt 10 Jahre und wir sind in guter Gesellschaft. Amen.